»Direkte Demokratie braucht Dialog«

Interview mit Prof. Roland Roth

Diskursive Bürgerbeteiligungsverfahren und direktdemokratische Abstimmungen wie Bürger- und Volksentscheide sind zwei wesentliche Ansätze zur Stärkung der partizipativen Demokratie. Während für die Gestaltung dialogorientierter Bürgerbeteiligung mittlerweile umfassende Qualitätskriterien vorliegen, fehlen diese für den Bereich der direkten Demokratie. Der Politikwissenschaftler Roland Roth spricht im Interview über Herausforderungen und Qualitätsstandards der direkten Demokratie und zeigt, wieso direkte Demokratie ohne Dialog nicht gelingen kann.

Welche Rahmenbedingungen sind für das Gelingen von direkter Demokratie nötig? 

Roland Roth: Als Erstes sollten wir uns bewusst machen, dass direkte Demokratie nicht die überlegene Form der Demokratie ist, sondern eine von vielen Möglichkeiten. Sie hat mit Blick auf die dominierende repräsentative Demokratie eher eine Korrektivfunktion und kann sie nicht ersetzen. Es gilt, sparsamen Gebrauch davon zu machen, es gibt nur wenige Themen, die direktdemokratisch bearbeitet werden können. Und bevor es zu einer direktdemokratischen Abstimmung kommt, stellt sich die Frage, welche Deliberation und welche Dialoge im Vorfeld stattgefunden haben. Wie weit gelingt es, die Alternativen zu profilieren? Ganz wichtig ist auch, dass direkte Demokratie grund- und menschenrechtsgebunden ist. Minderheitenrechte können nicht durch Mehrheitsentscheidungen übergangen werden, es kann zum Beispiel keine Entscheidungen geben, die die Religionsfreiheit beeinträchtigen. Wichtig ist auch, dass Transparenzregeln beachtet werden. Wer finanziert die Bürgerentscheide, die damit zusammenhängenden Kampagnen? Wenn diese Aufklärung stattfindet und eine dementsprechende Form der öffentlichen Debatte gewährleistet ist, dann kann es qualitativ gute direkte Demokratie geben.

Ist es sinnvoll, im Vorfeld eines Bürger- oder Volksentscheids das Machtungleichgewicht der handelnden Akteure zu thematisieren und es gegebenenfalls auszugleichen?

Entscheide sind immer offen für Instrumentalisierungen, vor allem dann, wenn mit viel Macht in die Kommunikation eingegriffen wird, zum Beispiel durch private oder neuerdings auch durch die sog. sozialen Medien. Wie machtvoll Medien im Umgang mit Wahlprozessen sein können, sehen wir ja auch im Bereich der repräsentativen Demokratie. Und das lässt sich bei direktdemokratischen Entscheidungen noch zuspitzen, weil es um eine einzelne Sachfrage geht, um Ja oder Nein. Und von daher ist es wichtig, darauf zu achten, dass es für Bürgerentscheide eine Art öffentliche Finanzierung gibt. Das klar ist, dass ist ein öffentlicher Auftrag, das ist eine Entscheidungsform, die im politischen Geschäft genauso viel Beachtung verdient wie die repräsentativen Formen, die entsprechend ausgestattet sind, damit es wirklich ein Mittel für alle Bürgerinnen und Bürger werden kann. Ein Vorbild könnte in diesem Zusammenhang Taiwan sein. Dort sind die öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet, zur besten Sendezeit Pro- und Kontra-Diskussionen für Bürger durchzuführen. Es braucht niedrigschwellige und ausgewogene Möglichkeiten, sich zu informieren.

Sollen Bürgerentscheide mit dialogorientierten Beteiligungsprozessen verbunden werden?

Das wäre meiner Meinung nach nicht nur sinnvoll, sondern unabdingbare Voraussetzung. Die Qualität der Entscheide und des Abstimmungsverfahrens hängen unmittelbar von der Qualität der Prozesse ab, die vor dieser Abstimmung liegen. Ist es wirklich gelungen, ein Thema breitgestreut zu diskutieren? Ist es gelungen, unterschiedliche Interessen und Perspektiven einzubeziehen? Ich halte viel von der Idealvorstellung, solange zu deliberieren und Dialoge zu führen, bis man Bürgerentscheide nach Möglichkeit überflüssig gemacht hat. Ein Dilemma von Bürgerentscheiden ist ja immer, dass sie Mehrheitsentscheidungen hervorbringen, die große oder kleinere Minderheiten erst mal in die Rolle der Verlierer drängen. Das kann massive Spaltungsprozesse in der Bürgerschaft zur Folge haben, eben weil die Verlierer sehen, dass ihre Interessen nicht angemessen berücksichtigt werden. Um dem vorzubeugen, sollte man solchen Abstimmungsverfahren prinzipiell entsprechende Deliberationsprozesse, Dialoge, öffentliche Debatten vorschalten. Möglicherweise wird dadurch die Abstimmungsfrage besser formuliert oder es wird ein Kompromiss gefunden, der eine Abstimmung überflüssig macht.

Bürgerentscheide sind rechtlich geregelte Verfahren. Wäre es sinnvoll, in den Kommunalverfassungen verpflichtend festzulegen, dass Bürgerentscheide stets mit dialogischer Bürgerbeteiligung verbunden sein müssen? Es müssten dann ja auch die Fristen der verschiedenen Prozessschritte entsprechend angepasst werden.

Das wäre sicher wünschenswert, mir ist aber etwas anderes wichtiger. Bisher war es ja so, dass Bürgerentscheide in den Bundesländern durch vielerlei Hürden erschwert worden sind. Deshalb stand in den letzten Jahren immer auch der Kampf gegen Themenausschlüsse und für die Absenkung von Quoren oder anderer Hürden im Vordergrund. Was wir aber stattdessen bräuchten, wäre eine Debatte über die Mindestanforderungen, die wir an demokratisch wirksame und vertretbare Formen der direkten Demokratie anlegen. Welche Qualitätsstandards der direkten Demokratie brauchen wir, gerade im Hinblick auf die rechtspopulistische Instrumentalisierung und die völkische Indienstnahme von Bürger- und Volksentscheiden? Es geht meines Erachtens als Grundregel nicht darum, noch mehr Bürgerentscheide zu ermöglichen, sondern darum, mehr gute Bürgerentscheide zu ermöglichen und für demokratische Qualität zu sorgen.

Sie haben es bereits angesprochen: Die direkte Demokratie wird in Deutschland seit einiger Zeit durch rechtspopulistische Akteure und Bewegungen unterstützt. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar? 

Diese neue Konstellation hat enorme Unsicherheit ausgelöst. Das liegt unter anderem daran, dass rechtspopulistische Kreise und Parteien die direkte Demokratie als Mittel gegen die repräsentative Demokratie ins Spiel bringen. Der vermeintlichen Elitenherrschaft wird eine Volksdemokratie gegenübergestellt, die in direkten Entscheidungen ausgeübt wird. Das heißt, es geht hier auch um ein anderes Demokratie-Verständnis, immer verbunden mit der Fiktion eines homogenen Volkes, dass sich gegen kleine Gruppen von Widersachern zur Wehr setzt und per Mehrheitsentscheid sozusagen für das Reinheitsgebot sorgt. Auf diese Weise wird Pluralität geleugnet und auch die Vielfalt von Interessen.

Befürworter sagen, direkte Demokratie bilde als »Stimme des Volkes« Meinungen und Themen ab, die ohnehin in der Gesellschaft vorhanden sind.

Dieses Argument ist meines Erachtens in seiner Absolutheit falsch. Was in Volksentscheiden und Bürgerentscheiden stattfindet, hängt doch sehr davon ab, wer sie initiiert, ob sie von unten oder zum Beispiel durch den Gemeinderat angestoßen werden. Es hängt aber noch mehr davon ab, wie informiert die Bevölkerung ist, wie stark die Diskussionsprozesse im Vorfeld sind. Es hängt davon ab, ob die mit einer Abstimmungsfrage verknüpften Vor- und Nachteile in einem transparenten Prozess deutlich geworden sind, in einem Prozess, in dem nicht bestimmte Einflussgruppen dafür sorgen, dass ein ihnen genehmes Ergebnis erzielt wird. Das heißt, wir haben eigentlich relativ hohe Ansprüche an Abstimmungsprozesse, Abstimmungskampagnen, an Bürger- und Volksentscheide, und die sind bei weitem nicht immer gesichert und gewahrt, wie viele Beispiele im In- und Ausland, nicht zuletzt der Brexit, zeigen. Dazu kommt, dass direkte Demokratie nicht selten durch eine Misstrauenshaltung gegenüber etablierter Politik bestimmt wird.

Mit Blick auf die Zukunft der Demokratie: welche Rolle spielt die direkte Demokratie, welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es?

Ich würde die direkte Demokratie mit ihren Bürger- und Volksentscheiden sehr sparsam verwenden. Sie ist aus vielen Gründen nicht beliebig steigerbar, auch wegen der möglicherweise destruktiven Wirkung auf das Gemeinwesen und der geringen Alltagstauglichkeit. Ich würde sie immer als Korrektiv sehen, aber nicht als Modell, auf das wir in großer Zahl setzen sollten. Für mich wäre wichtig, dass wir Formen von direkter Demokratie betreiben, die eine andere Perspektive anbieten. Das für die Bürgerinnen und Bürger Faszinierende an Bürgerentscheiden ist ja, dass sie direkt über eine Sachfrage entscheiden können, dass sie direkt etwas bewirken. Und diese Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist im repräsentativen Zusammenhang doch nur sehr schwer zu gewinnen. Vor diesem Hintergrund würden sich Bürgerhaushalte, Stadtteilbudgets- oder Fonds für die zukünftige direktdemokratische Nutzung anbieten. Denn natürlich ist es auch direkte Demokratie, wenn eine Stadt einen Bürgerhaushalt von 100.000 oder 200.000 oder mehr Euro anbietet und sagt, das sind Mittel, die wir zur Verfügung stellen, um zum Beispiel ein bestimmtes städtisches Quartier voranzubringen oder das Umfeld einer Wohnsiedlung zu gestalten. Und die Bürgerinnen und Bürger können Vorschläge machen und stimmen dann über diese Vorschläge ab mit Mehrheitsentscheid. Das hätte einen zusätzlichen Vorteil, denn viele dieser Budgets und Fonds, die wir in verschiedenen Bereichen, von der Flüchtlingshilfe bis zu Schülerhaushalten, haben, sind geeignet, bürgerschaftliches Engagement auszulösen. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger werden animiert, an der Umsetzung ihrer Ziele mitzuwirken. Dies wäre zweifellos eine wichtige demokratische Qualität.

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